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Barcelona 1992, Paris 2024 und der ewige Dopingschatten

Über olympische Konstanten, historische Wahrheiten, Langzeit-Recherchen, plaudernde Meister-Doper, Fabel-Leistungen, eine Omertà auf allen Ebenen, Propaganda und die Macht der vom IOC produzierten TV-Bilder.

Barcelona 1992, Paris 2024 und der ewige Dopingschatten
Mal eine ganz andere Erinnerung an Barcelona 1992: Fidel Castro ganz fidel bei der Eröffnungsfeier, was den IOC-Führer Samaranch amüsiert, König Juan Carlos Alfonso Víctor María de Borbón y Borbón-Dos Sicilias aber ziemlich kalt lässt. (Foto: IMAGO)

Gestern kam die Mitteilung des ARD-Teams Seppelt (Eye.Opening.Media) über einen neuen Doping-Scoop. Filmmaterial wurde ihnen zugespielt, raunt Hajo Seppelt in der anderthalbstündigen Doku "Geheimsache Doping: Schmutzige Spiele", und das Material hat es tatsächlich in sich, denn es ist eine wichtige sporthistorische Ergänzung, exklusiv: Fachdoper Eufemiano Fuentes berichtet vor versteckter Kamera, wie er in den 1980er Jahren damit begann, ausgewählte und damals teilweise noch minderjährige Spanier in kommunistischer Tradition systematisch zu dopen – in Auftrag von Staat und Sportorganisationen.

Spanien wollte Medaillen bei den ersten Olympischen Spielen im Land, 1992 in Barcelona. Und das sei seine Order gewesen, sagt der Blutpanscher Fuentes:

"Tu, was du tun musst, aber wir wollen keine Probleme."

Inzwischen habe ich die Doku gesehen, und ich habe mir auch anderes angeschaut und mich ausgetauscht seit gestern Vormittag, ich werde mal kurz versuchen, wenigstens einige Erzählstränge, Ereignisse, Dokumentationen, Dokumente und Ebenen sinnvoll miteinander zu verbinden – damit Sie es etwas leichter haben.

Zunächst, damit das gleich erledigt ist, der Link zum ARD-Film unter Mitwirkung von Nick Butler, Jörg Winterfeldt, Jörg Mebus und anderen, dem Team aus der Firma von Hajo Seppelt. In Vorbereitung auf die in einer Woche beginnenden Spiele von Paris sollten Sie sich diese 88:18 Minuten gönnen:

Olympia 2024 - die Hintergründe: Geheimsache Doping: Schmutzige Spiele - hier anschauen
Olympische Spiele waren und sind Festivals des Sportbetrugs. Hajo Seppelt und das Team der ARD-Dopingredaktion beleuchten die düstere Doping-Historie des Ringe-Spektakels und decken durch weltweite Recherchen auf, wie tief die olympische Bewegung noch heute im Doping-Sumpf steckt. Die Hoffnung auf saubere Spiele in Paris ist eine Utopie, nicht nur wegen des neuen Verdachtsfalls von Massendoping unter chinesischen Spitzenschwimmern. Die „Herren der Ringe“ im Internationalen Olympische Komitee zeigen ebenso wie die handverlesenen Großsponsoren der Spiele wenig Interesse, am Status quo etwas zu ändern - nichts soll das Milliardengeschäft Olympia stören und den schönen Schein trüben. Athletinnen und Athleten verlieren dagegen allmählich die Geduld und begehren immer mehr gegen das System auf.

Ich las irgendwo auf Social Media auch einige Bemerkungen, wonach es wohl ein Witz sei, im Jahre 2024 mit einer Dopinggeschichte aus dem Jahr 1992 zu kommen. Ich kenne derlei Argumentationen, die kommen manchmal sogar von Journalisten. Ich erinnere mich zum Beispiel noch sehr gut daran, wie meine Freunde Andrew Jennings und James Oliver im Dezember 2010 im Vorfeld der FIFA-Vergabe der Fußball-Weltmeisterschaften 2018 und 2022 von englischen Bewerbern und englischen Journalisten attackiert wurden – Ihre Enthüllung zur ISL-Bestechungsliste, um die wir gemeinsam zehn Jahre gerungen hatten, wurde als History Channel marginalisiert, auch von Reportern, die sich instrumentalisieren ließen oder es einfach nicht kapierten.

So als ob das eine nichts mit dem anderen zu tun hätte, so als ob die damaligen Bewerbungen, über die seither die Welt debattiert hat, nicht von Korruption überschattet gewesen wären und unter den Schmiergeldempfängern in 2010 nicht einige gewesen wären, die auf der ISL-Liste standen.

Keine Angst, ich gehe nicht weiter ins Detail, bin schon zurück bei der jüngsten Doping-Doku: Wer so etwas bewusst als History Channel verunglimpft, hat Journalismus nicht verstanden. Klar hätte ich eher gejubelt, wenn Seppelt & Team irgendeinen aktuellen deutschen oder amerikanischen Doper enttarnt hätten. Als würde es nicht reichen, dass im April gerade erst die China-Story veröffentlicht wurde, die hochbrisant und aktuell ist. Aber Leute, was Fuentes da vor versteckter Kamera erzählt, das ist substantiell, das ist schlicht und einfach ein sehr wichtiges Puzzleteil in der ganz großen Geschichte: Es gehört im allerbesten Sinne des Wortes in den Olympic History Channel, den bitte niemand mit der Firma Olympic Channel des IOC verwechseln sollte.

Im IOC-Kanal taucht das nicht auf.

Und sehen Sie, schon sind wir mitten im Juli des Jahres 2024. Von Barcelona nach Paris ist es inhaltlich nur ein Katzensprung – zurück ebenfalls. Seppelts Team versucht im jüngsten Werk übrigens auch, diesen Bogen zu schlagen, sogar Moskau 1980 wird nochmal erwähnt, die alte Geschichte, die die ältere Generation unter uns journalistisch bereits in den 1990er Jahren beschäftigt hat, Manfred Donike mit seinen privaten Nachtests der Dopingproben 1980 in Moskau, die offiziell sauber, tatsächlich aber testosteronverseucht waren.

Als Ergänzung empfehle ich die jüngste Beichte des Dopingdealers Victor Conte in der Serie How Crime Works des Insiders: "How Olympic Sports Doping Actually Works":

Das sind insgesamt schon zwei Stunden Video für Sie, aber da haben Sie alles beisammen, nicht alles, aber einen Schnellkurs durch die jüngere Doping- und Olympiageschichte: Moskau, Seoul, Flo-Jo, Barcelona, Fuentes, Charlie Francis, Balco, Sydney, Jones & Montgomery, Radsport, WADA, Berendonk & Franke, DDR, Spanien, USA, Rodschenkow, Russland, das IOC, Athen, London, olympische Nachtests, Geschichtsfälscher, Propagandisten und natürlich jüngste Erkenntnisse zum mutmaßlichen chinesischen Massendoping im Schwimmen.

Beste olympische Bildung, ich liebe dieses Wort, so wie es sein sollte.

Diese Art Olympic History Channel ist wichtiger denn je. Denn dagegen steht (auch mit den Gebührenzahler-Millionen der öffentlich-rechtlichen Anstalten, muss man dazu sagen!) eine gewaltige, vom IOC-Napoleon und Frankreichs Napoleon gesteuerte Propaganda, die uns Paris 2024 als unvergleichliches wunderbares faires Friedensfest der Menschheit serviert.

Fuentes beschreibt die Vergangenheit. Was Spanien gemacht hat, haben damals auch die Franzosen getan, ein Dopingsystem aufgebaut (mit einem IOC-Mitglied als Sportminister in einer Hauptrolle, Guy Drut), das dann irgendwann wieder zerschlagen wurde. Ein paar Jahrzehnte später, kurz vor den Spielen, sieht es im französischen Sport hinter den Kulissen ziemlich schrecklich aus, denn klar, es müssen Medaillen her, koste es, was es wolle: "On the road to Paris 2024: 'omerta at all levels', a 'rape culture' and 'systemic dysfunctions' in sport".

On the road to Paris 2024: “omerta at all levels”, a “rape culture” and “systemic dysfunctions” in sport
France’s sport has received an increase in funding for Paris 2024. President Macron wants more medals. France also receives the 2030 Winter Games. The other side of the coin: the sports system is dominated by scandals and mismanagement at all levels, as a breathtaking investigation report documents.

Der Kampf um die Deutungshoheit und die Macht der Bilder, die von IOC-Firmen für rund eine dreiviertel Milliarde Dollar produziert werden, war selten so brutal wie in diesem Jahr; das werde ich noch ausführlich erläutern in anderen Beiträgen. Paris wird zahlreiche der grandiosesten Bilder erzeugen (bewegt und still), die Olympia je geliefert hat – auf nichts anderes kommt es an. Paris wird begeistern, die prächtigste Stadt der Welt präsentiert rund um einige der berühmtesten Plätze und Bauwerke des Planeten ikonische Sportstätten und Momente, das hat es in dieser Ballung noch nie gegeben, London 2012 ist nichts dagegen.

Doch es gibt halt auch andere Ebenen, Wahrheiten, die in mehr als 99 Prozent der Übertragungszeiten, der Trilliarden Social-Media-Videos, Fotos und Texte in den nächsten dreieinhalb Wochen nicht erwähnt werden.

"Schmutzige Spiele" und "How Olympic Sports Doping Actually Works" sind zwei wichtige Ausnahmen. In diesem Theater werden Sie bis Mitte August auf kleinerer bescheidenen Ebene täglich weitere Ausnahmen finden. Das kann die olympische Welt aushalten.

Lassen Sie mich gar nicht erst damit anfangen, all die inhaltlichen Klammern von Barcelona 1992 zu Paris 2024 aufzählen zu wollen. Würde ich das versuchen, müssten Sie bis morgen lesen. Bevor ich aber wieder zum Doping komme, werde ich erwähnen, was die sportpolitischen Gourmets unter Ihnen von mir erwarten, eine wichtige dieser inhaltlichen Klammern:

Eigentlich hätten die Sommerspiele 1992 in Paris stattfinden sollen. Dagegen war natürlich der damalige IOC Präsident Juan Antonio Samaranch, der Vater des gleichnamigen IOC-Mitglieds, das sich heute anschickt, Thomas Bach als IOC-Präsident zu beerben. Dagegen war auch der wichtigste Verbündete von Samaranch Senior: Horst Dassler, damals Boss von Adidas und ISL, als dessen Promotiondirektor ein gewisser Thomas Bach werkelte, der auch zur sogenannten sportpolitischen Abteilung von Adidas gehörte – jene Abteilung also, die auch dafür sorgte, dass auf der IOC-Session 1986 in Lausanne nicht Paris Olympiastadt 1992 wurde, sondern Samaranchs Heimatstadt Barcelona, aus der der IOC-Patron und Franco-Verehrer einst vom Volk davongejagt wurde.

Ich belasse es bei einem Link ("Der olympische Sumpf") aus einer Myriade meiner Artikel, Publikationen und Belege dazu. Kleiner Einwurf nur, juristisch stets wichtig: Herr Bach hat von unsauberen Machenschaften natürlich nie Kenntnis erlangt. Es geschah alles ohne sein Wissen.

Herr Bach, inzwischen zur lebenden IOC-Gottheit mutiert, lobt die Spiele von Barcelona bei jeder Gelegenheit als einzigartig. Herr Bach lässt die Spiele von Paris als Sternstunde der Menschheit verkaufen, darüber wird viel zu reden sein in den nächsten Wochen. Wir aber wollen gemeinsam genauer hinschauen.

Stammgäste in diesem Theater wissen die Tradition zu schätzen, dass ich zu Beginn meiner wochenlangen Olympia-Berichterstattung gern Erinnerungen wälze. Mein Sohn sagt dazu: Opa erzählt vom Krieg. So ist das mit der älteren Generation, unmöglich. Ich habe mir gestern erste Notizen gemacht, da kam die Ankündigung der Doku mit Fuentes und Barcelona dazwischen. So musste dieser Artikel etwas anders gestaltet werden.

Doping, Bach, Samaranch (der Senior und der Junior), Barcelona 1992, Paris 2024, die Weltpolitik (Kriege damals, Kriege heute), ausgeschlossene Nationen und Sportler, Propaganda auf allen Ebenen – es liegt alles ganz nah beieinander, vieles ist miteinander verwoben. Lassen Sie sich nichts anderes erzählen.

Ich war 1992 in Barcelona das erste Mal bei Olympischen Spielen akkreditiert. In Paris sind es meine neunten Sommerspiele in Folge. Barcelona war aufregend, begeisternd, fantastisch – in jeder Beziehung journalistisch prägend. In Dopingfragen habe ich in Barcelona wohl endgültig meine journalistische Unschuld verloren, sollte da noch etwas Unschuld und ein minimaler Glaube an das Gute gewesen sein. Es war besonders eine Szene, die sich eingebrannt hat, die ich nie vergessen werde – die Macht der Bilder halt, nur etwas anders, als sich die IOC-Produzenten das vorstellen:

Kevin Young gewann in Weltrekordzeit die 400 Meter Hürden. Ich saß nur ein paar Dutzend Meter entfernt und hatte beste Sicht auf diese Szene, selbst ohne TV-Bilder:

Screenshot Olympic Channel

Young machte keinen sonderlich erschöpften Eindruck nach seiner Fabelleistung. Das war mir aus guten Gründen suspekt und blieb es bis heute. Derlei Gesten habe ich vor allem in den 1990er Jahren, aber auch danach, bei all den Leichtathletik-Events zu oft gesehen, einmal von einem frischgebackenen 400-m-Weltrekordler (ebenfalls in Spanien, 1999 in Sevilla, noch näher dran und sogar mit einer Olympiasiegerin an meiner Seite, Marie-José Pérec), dem niemand ansah, dass er gerade ein Wunder vollbracht hatte. Ein Atemloser. Ähnlich wie Kevin Young, der von John Smith trainiert wurde, was den Kennern unter Ihnen viel sagt, alle anderen googeln bitte.

Wenn ich an Barcelona denke, dann denke ich also nicht nur an die wunderbaren Nächte auf dem Montjuïc, an die bunten Wasserspiele zu Füßen des Palau Nacional mit DEM Song von Montserrat & Freddie, an Astrid Straußens Erdbeerbowle und Dagmar Hases Ausraster, an Dieter Baumann und Heike Drechsler, an Ronny Weller und das Dreamteam, an eine vierzehnjährige Berliner Göre, an die grandiose Eröffnungsshow und Cordt Schnibben vom SPIEGEL, der neben mir raunte Wie gut, dass ich meinen Text schon geschrieben habe, sonst könnte ich das alles noch gut finden, an die verzehrende brutale Ost-West-Debatte … ich denke vor allem an die Szene mit Kevin Young. Für mich das Symbolbild schlechthin.

Vom damals nicht nachweisbaren Wachstumshormon wussten wir schon einiges, von EPO ebenfalls, und ich hatte im Juni 1992 einen Kindheitstraum wahrgemacht und mich auf Bildungsreise, auch auf Doping-Bildungsreise, zu den US-Trials in der Leichtathletik begeben, wo ich u.a. ein schräges Gespräch mit dem in einer Eistonne badenden Dopingsünder Harry Butch Reynolds führte. Die Trials in New Orleans erwähnt Victor Conte übrigens auch in "How Crime Works":

Conte hat 1992 u.a. den Kugelstoßer Gregg Tafralis betreut und also fachmännisch gedopt. Tafralis, der gerade eine Dopingsperre hinter sich hatte, wurde Vierter bei den Trials und verpasste Olympia. Wenig später will Conte einen Anruf von einem US-Funktionär bekommen haben, der ihm sagte, dass Tafralis und vier andere Leichtathleten positiv getestet seien, man aber keinen Lärm machen wolle, sei irgendwie blöd für Amerika, und deshalb die Tests unter den Teppich kehre.

War das so? Wie viele solcher Tests verschwanden in all den Jahren auf all den Kontinenten in all den Nationen? Tausend, zehntausend? Mehr?

Ich finde, jede Variante einer Antwort, jedes kleine Detail, das sich belegen lässt, hilft uns, das Treiben besser zu verstehen und einzuordnen. Das mag für manche langweilig klingen, für mich ja selbst oft genug. Aber gerade jetzt, so kurz vor den Spielen, bin ich ganz und gar nicht gelangweilt, sondern finde das ziemlich spannend. Die beiden Dokus haben die Erinnerung aufgefrischt und Neues geliefert, hat mir insgesamt eher gefallen, auch wenn ich dadurch meinen ursprünglichen Plan eines Barcelona-Textes über den Haufen schmeißen musste.

Der Rückblick muss sein, wie immer vor den Spielen, ich werde Barcelona morgen noch einmal erwähnen und mich dann über Atlanta und Sydney ins dritte Jahrtausend quälen. Viel Doping, viel Leichtathletik, viel Schwimmen, viel Lug und Trug und Schein und Sein, Gänsehaut und Abscheu, Wissen und Glauben, Hoffen und Zweifel.

Wie im echten Leben.

Bis Samstag. Bleiben Sie neugierig!

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